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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der Artbegriff



Thomas
24.11.10, 10:53
Hallo Kollegen,

wir tasten uns immer weiter an die uns besonders interessierenden Themengebiete Fischbiologie und Fischbestimmung heran ... dazu beleuchten wir heute den biologischen Artbegriff, eine weitere Grundlage.
Der Eine oder Andere mag sich fragen, was da wohl kommen wird, schließlich wird der Artbegriff von jedem einzelnen von uns tagtäglich angewendet ... wir nennen den gefangenen Hecht 'Hecht' oder 'Esox lucius' und jeder Kollege, mit dem wir uns unterhalten, vermag die Information richtig einzuordnen, wenn wir über unseren Hechtfang berichten.

Es mag erstaunlich sein, aber: der Artbegriff ist ein theoretisches Konstrukt der Biologie ... seine Anwendung ist oftmals problematisch. Das schauen wir uns näher an ...

Was macht eine Art aus, was ist eine Art? Bemühen wir uns also zunächst um Definitionen ...


Die Biologie kennt tatsächlich mehrere Artbegriffe:


Den morphologischen oder typologischen Artbegriff

Morphe (griech.) bedeutet Gestalt, Morphologie ist also 'Gestaltlehre', innere wie äußerliche.
Die nur äußerliche Ausprägung heißt oder ist Eidonomie, rein äußerliche Merkmale nennt man 'eidonomisch'.
Der morphologische Artbegriff definiert also, dass sich Arten anhand morphologischer Merkmale voneinander unterscheiden lassen.

Diese Definition kann zu Problemen führen:
- die biologische Variation ('Unterschiedlichkeit') wird für Individuen einer Art wahrscheinlich nur unzureichend berücksichtigt
- das Problem des sog. Sexualdimorphismus: auch ein Biologe könnte bei Erstbeschreibung das Männchen (Erpel) unserer heimischen Stockente im Verhältnis zum Weibchen durchaus zu einer anderen Art zugehörig halten, hier vor allem aus eidonomischen Gründen ... erst Beobachtungen zu Verhalten und Fortpflanzung führen aus diesem Dilemma heraus

Typisierung bedeutet, die Variationsbreite unter Individuen einer Population einzuberechnen:
Eine Population wird derjenigen Art zugerechnet, deren Typusbeschreibung mindestens 75 Prozent der Individuen entspricht...an dieser Definition wird der theoretische Charakter des besprochenen Artkonzepts klar erkenntlich und stellt somit auch gleichzeitig den Gültigkeitsrahmen des morphologischen/typologischen Artkonzepts dar.



Den chronologischen Artbegriff

Populationen einer bestimmten Art stellen in ihrer Abfolge ein zeitliches Kontinuum dar. Wichtig und angewendet vor allem für Paläontologen tritt als einziges neuartiges Definitionskriterium zum morphologischen Artbegriff die Zeit hinzu.


Den populationsgenetischen Artbegriff


Dieser Artbegriff ist wesentlich fortschrittlicher und geht auf das hervorragende wissenschaftliche Wirken des österreichischen Evolutionsbiologen Ernst Mayr (1904-2005) zurück, der Artbegriff ist nicht nur am einzelnen Individuum, sondern an der Gemeinschaft der Individuen, der Population, orientiert und auch die zeitliche Abfolge, also das Werden, Sich-Fortpflanzen und Vergehen von Populationen wird in der Definition berücksichtigt:

Eine Art ist eine reproduktive Gemeinschaft von Populationen (reproduktiv isoliert von anderen), die eine besondere Nische in der Natur einnimmt (Ernst Mayr, 1969).
Anzumerken ist, dass der Begriff 'Merkmal' zu dieser Zeit bereits über Gestalt und Erscheinung (Anatomie/Morphologie) hinaus ging: physiologische (stoffwechsel~), ethologische (verhaltens~), molekularbiologische und genetische Erkenntnisse erweiterten bereits das Fakten-Sammelsurium, das für eine evtl. Artzugehörigkeit sprach oder ihr eben widersprach.

Trotz allen Fortschritts in der Ausarbeitung des Artbegriffs wirft gerade dieser einige besonders delikate Fragestellungen auf:
Der Kernpunkt der Definition läuft auf Reproduktion, also Fortpflanzung hinaus...

Nun können wir ketzerisch dem Konzept des Artbegriffes unangenehme Fragen stellen, aber auch auf deren Beantwortung hoffen:

1) Worin besteht die reproduktive Isolation eines Einzellers, der sich ungeschlechtlich durch Teilung vermehrt?
Antwort: der Artbegriff lässt sich nur auf sich zweigeschlechtlich (sexuell) vermehrende Organismen anwenden.

2) Sogar verschiedene Bakterien-Stämme tauschen über Konjugation Erbmaterial aus ... also weit über Artniveau?
Antwort: der Artbegriff ist auf Prokaryoten (Organismen ohne Zellkern) generell nicht anwendbar.

3) Das Maultier- und das Giebel-Problem
Dem obigen Artbegriff ist zu entnehmen, dass zwischen 2 verschiedenen Arten reproduktive Isolation herrschen soll: 2 Arten können sich nicht untereinander fortpflanzen, nur jeweils innerartlich ... soweit zumindest die Forderung.

Reproduktive Isolation der Arten kann über mehrere Wege erreicht werden, nur wenige seien exemplarisch genannt: jahreszeitliche Isolation (versch. Fortpflanzungszeiten), mechanische Isolation (Fortpflanzungsorgane passen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip nicht zueinander, trifft für äußere Besamung natürlich sowieso nicht zu), keine Befruchtung trotz Begattung, somit keine Initialzündung für die Entwicklung und und und ...

Nun steht da als Paradoxon natürlich das Maultier, ein Hybrid aus Pferd und Esel .... ein Problem für diesen Artbegriff.

Noch spezieller stellt sich die Situation bei Giebeln dar: ein Weibchen reicht aus, um eine Population zu begründen oder zu erhalten. Dies liegt daran, dass Giebelweibchen zur sog. Gynogenese (Jungfernzeugung) befähigt sind. Die Eier werden entlassen, Spermien anderer Cypriniden können sie zwar nicht befruchten (Zygote, Erbgutverschmelzung der Keimzellen), stoßen aber deren Entwicklung an ... eine ganze Giebelpopulation ensteht: übrigens alles Weibchen...

Wie reagiert nun der populationsgenetische Artbegriff auf unsere ketzerischen Gegenbeispiele?
Antwort: durch eine erweiterte Forderung ... reproduktiv müssen fertile (fruchtbare) Nachkommen entstehen. Maultiere sind unfruchtbar und können sich nicht fortpflanzen, bei Giebeln kommen sich geschlechtlich vermehrende (Männchen u. Weibchen) sowie sich gynogenetisch vermehrende Populationen vor. Nur die sich geschlechtlich vermehrenden werden von diesem Artbegriff auch erfasst (s. 1).


Den phylogenetischen oder evolutionären Artbegriff

Dies ist der fortschrittlichste Artbegriff, der auf dem vorhergegangenen basiert, zusätzlich aber noch einige weitere Bedingungen zur Definition heranzieht.

Die wichtigste Bedingung ist, dass die Gruppe (das Taxon, also eine willkürlich hoch oder niedrig angesiedelte Kategorie) aus einem sog. Monophylum entstanden, also monophyletisch ist. Das heißt, dass sich für die gesamte Gruppe eine einzige Stammform finden lässt. In der Kategorie enthalten ist nur die Stammform selbst sowie alle Formen, die sich evolutiv aus der Stammform entwickelt haben, aber keine anderen.

Klingt kompliziert? Ist es nicht, nennen wir ein Beispiel für eine nicht monophyletische Gruppe: die Reptilien. Bei diesen sind die Krokodile enger mit den Vögeln verwandt als mit dem Rest der Reptilien, Vögel werden traditionell aber nicht zu den Reptilien gerechnet. Daher ist das Taxon paraphyletisch, monophyletisch wäre es nur, wenn es Reptilien und Vögel umfasste.

In diesen Artbegriff ist nun auch das Verständnis eingearbeitet, dass sich Arten evolutionär im Laufe der Zeit verändern (sog. Anagenese). Sie entstehen durch eine Artspaltung und persistieren, bis die Art ausstirbt oder sich in 2 neue Arten aufspaltet. Für den Prozess der Artspaltung selbst ist wiederum reproduktive Isolation zu fordern.



Nun, wer hätte gedacht, dass der Artbegriff eigentlich so schwierig in der Anwendung ist ... ?

Wir haben nun aber die 2. Etappe der Grundlagen hinter uns und können uns nun im nächsten Beitrag bereits um sichere und unsichere Merkmale in bezug auf Fischbestimmungen kümmern....